Das Entscheidungsverfahren “integrative Konsent” (integrated decision making, IDM) ist für Teams nicht intuitiv anwendbar. Die Übung “einwandfrei” hilft die Schritte im IDM zu verstehen und zu üben.
Beschreibung
Unterstützt | Dauer | Eignung | Wer | Stufe |
---|---|---|---|---|
Selbstbestimmung, Einfluss, Struktur und Klarheit | 120 | eher Team | Moderator | Einstieg |
Ziele
- Kennenlernen von einem modernen Entscheidungsverfahren für Teams.
- Das Team erlernt in diesem Format die Disziplin, nicht jedem Impuls sofort lauthals auszusprechen.
- Das Team lernt alle Stimmen im Team zu hören und zu berücksichtigen.
Ablauf
Als Moderator solltest du dir den Ablauf gut durchlesen. Es ist wichtig, dass du die einzelnen Schritte sehr diszipliniert moderierst. Sonst besteht die Gefahr, dass das Team in eine Diskussion geht und dabei die Inhalte der nachfolgenden Schritte bespricht. Falls dir das passiert, dann brich die Übung ab und starte mit einer “unverbrauchten” Spannung einen neuen Versuch.
Spannung formulieren
- Stelle im Team klar, dass es sich bei dieser Übung nur um einen Probelauf handelt. Die Entscheidungen, die heute erarbeitet werden, treten nicht in Kraft. Es seid denn, dass das Team dies explizit beschließt. Es können sich also alle Teilnehmer entspannen und diesen Probelauf ohne Konsequenzen mitmachen.
- Gib dem Team 3 min Zeit und lass die Teammitglieder eine Spannung beschreiben, das sie im Team wahrnehmen. Die Spannung ist die Antwort auf die Frage: “Was bremst unseren Erfolg, weil es nicht so gut läuft, wie es laufen sollte?”. Die Spannung muss auf eigenen Wahrnehmungen beruhen, die Teammitglieder in ihren Arbeitsaufgaben (Rollen) direkt betreffen. Am besten funktionieren Spannungen, die sich auf Abläufe und Aufgabenteilung im Team beziehen.
- Schreibe die drei Kriterien auf ein Flip-Chart:
- Die Spannung hat negative Folgen für das Team.
- Die Spannung betrifft den Autor bei seiner Arbeit (er spricht nicht Probleme anderer an).
- Es ist nur eine Spannung und noch keine Lösung.
- Geht dann die formulierten Spannungen reihum durch:
- Die Person, die dran ist, liest ihre Spannung vor.
- Das Team geht nicht auf die Spannung inhaltlich ein, es muss die Spannung nicht verstehen – als Moderator unterbindest du jegliche Fragen, Kommentare, Verbesserungen, Lösungsideen, etc. Das Team gibt Rückmeldungen, wenn die obigen Kriterien nicht erfüllt sind.
- Der Spannungsgeber kann seine Spannung anpassen oder zurückziehen, wenn sie z.B. eine andere Person betrifft.
- Haben einige Teammitglieder ihre Spannung zurück gezogen, dann gibt ihnen etwas Zeit eine Neue Spannung zu formulieren, damit sie den nächsten Schritt mitmachen können.
Vorschlag entwickeln
- Das Team bekommt nun 5 min. Zeit, damit jedes Teammitglied einen Lösungsvorschlag für die eigene Spannung entwickeln kann.
- Schreibe folgende Hinweise auf ein Flip-Chart:
- Gib ein Beispiel für eine reale Situation, in der der Lösungsvorschlag die Spannung reduziert hätte oder reduzieren würde.
- Begründe logisch warum/wie die Lösung die Spannung reduziert
- Geht dann die formulierten Lösungen reihum durch:
- Die Person, die dran ist, liest ihre Spannung und den Lösungsvorschlag vor.
- Dann arbeitet die Person die beiden Hinweise auf dem Flip-Chart ab.
- Das Team hört gut zu, aber geht nicht auf die Lösung inhaltlich ein – als Moderator unterbindest du jegliche Fragen, Kommentare, Bewertungen, Ergänzungen, etc. Das ist wichtig, denn die Fragen werden erst im Schritt “Vorstellung” beantwortet.
- Die anderen Teammitglieder reagiert nur, wenn die formalen Bedingungen nicht erfüllt sind. Also, dann wenn das Beispiel nicht real ist oder es einen groben Fehler in der logischen Begründung gibt.
- Das Team hat nun alle Spannungen und Lösungsvorschläge gehört. Wählt nun eine Spannung und Lösung aus, die ihr weiter bearbeiten wollt.
Vorstellung
- Wähle 1-2 Teammitglieder aus, die in diesem Schritt nicht als Teammitglied agieren, sondern als Beobachter dem Team Rückmeldungen geben.
- Die Beobachter haben die Aufgabe sofort “Bingo”, “Erwischt”, “Böse” oder ein anderen Signalwort zu rufen, wenn die Regel nicht eingehalten werden. Lass die Beobachter ihr bevorzugtes Wort oder eine lustigen Laut selbst auswählen.
- Das restliche Team konzentriert sich auf die zu lösende Spannung: der Spannungsgeber liest die Spannung vor und stellt knapp seinen Lösungsvorschlag vor.
- Das Team kann nun Fragen stellen, die ihnen helfen die Spannung und den Vorschlag zu verstehen. Sämtliche Versuche den Vorschlag zu bewerten oder zu beeinflussen, werden von den Beobachtern mit einem Zwischenruf unterbunden.
- Der Spannungsgeber beantwortet die Fragen, aber nur wenn er die Antwort kennt, ansonsten sagt er “noch offen”. Er soll die Lösung nun nicht weiterentwickeln oder in eine Diskussion gehen, aus das verhindern die Beobachter.
- Lass dem Team genug Zeit sich noch Fragen zu überlegen, erst wenn Spannung und Vorschlag für alle klar ist, geht es in die nächste Runde.
- Bedanke dich bei den Beobachtern und entlasse sie aus ihrer Rolle, sie sind nun wieder normale Mitglieder des Teams.
Reaktionen
- Jetzt hat das Team endlich die Gelegenheit Stellung zu beziehen.
- Gib den Teammitgliedern zunächst ein wenig Zeit sich im Stillen ihre Reaktion auf den Vorschlag zu überlegen.
- Dann darf reihum jedes Teammitglied den Vorschlag nach eigenem Ermessen kommentieren, bewerten, etc. Wer nicht dran ist, hört nur zu!
- Das Team darf mit dem Vorschlag hart ins Gericht gehen – das Motto lautet: deutlich und unverblümt sagen, was man davon hält.
- Jedes Teammitglied bekommt nur einmal die nötige Zeit, um alles zu sagen, was ihm wichtig ist. Es gibt keinen zweiten Redebeitrag, daher sollten sich vorher alle überlegen, was sie sagen wollen.
- Als Moderator unterbindest du:
- persönliche Angriffe
- Diskussionen und Dialoge
- Zweit-Meldungen
- Jegliche Reaktion des Spannungsgebers
Kurze Auswertung
Prüfe, wie es bislang im Team lief. Wenn du den Eindruck hast, dass es dem Team schwer fällt die Disziplin aufzubringen, dann kannst du eine kurze Reflexion einschieben.
- Sag, dass du den Entscheidungsablauf kurz unterbrechen möchtest.
- Stelle Fragen, wie z.B.
- Was ist mir schwer gefallen? Warum?
- Welchen Impuls in mir musste ich unterdrücken?
- Welchen Anteil habe ich auf den Vorschlag bezogen, welchen auf meine Person?
- Welche Vorteile hat das neue Vorgehen?
Vorschlag 2.0
- Wenn die Reaktionen vom Team wertvoll waren, dann kommt der Spannungsgeber ins Denken. Möglicherweise möchte er seinen ursprünglichen Lösungsvorschlag weiterentwickeln.
- Gibt dem Spannungsgeber die Möglichkeit und Zeit um seinen Vorschlag anzupassen, um die eigene Spannung besser zu lösen. Das Team kann in dieser Zeit eine Pause einlegen, da sie nicht helfen oder beeinflussen sollen.
- Nun kann der Spannungsgeber seinen geänderten Vorschlag vorstellen und erklären, worum es ihm dabei geht. Das Team hört sich das an, ohne zu diskutieren.
Einwände
Der Vorschlag hat nun die Fassung, die zur Abstimmung vorgelegt wird. Es wird aber nun nicht darüber entschieden, ob der Vorschlag umgesetzt wird oder nicht! Der Vorschlag wird auf jeden Fall umgesetzt. Die Frage ist nun, ob dadurch ein Schaden entstehen würde.
- Stelle dem Team die Frage “Hast du Bedenken, dass es uns schädigen wird, wenn wir den Vorschlag annehmen?”
- Lass die Teammitglieder ihre Namen und ihre Bedenken auf Moderationskarten schreiben und an die Wand pinnen.
- Stelle dann folgende Bedingungen dem Team zur Verfügung:
- Der Vorschlag schädigt das Team
- Die Bedenken beziehen sich auf die eigene Rolle
- Die Bedenken existieren nur, wenn der Vorschlag umgesetzt wird.
- Die Bedenken sind mehr als Vermutungen
- Geht nun nacheinander die Bedenken gemeinsam durch. Trennt die Bedenken, die alle Bedingungen erfüllen von den Bedenken, die mindestens eine Bedingung nicht erfüllen. Typischerweise erfüllen viele Bedenken mindestens eine Bedingung nicht.
- Bedenken, die eine Bedingung nicht erfüllen werden nicht integriert, sondern gehen andere Wege:
Nicht erfüllte Bedingung | Umgang |
---|---|
Der Vorschlag schädigt das Team | Bedenken haben nicht mit dem Vorschlag zu tun, es handelt sich um eine eigenständige Spannung |
beziehen sich auf die eigene Rolle | Sprich nicht für andere! Die betroffene Rolle äußert bringt es ein, wenn sie die Bedenken hat. |
Bedenken nur, wenn Vorschlag umgesetzt wird. | Bedenken sind unabhängig vom Vorschlag, mach daraus eine neue Spannung |
Mehr als Vermutungen | Warte erst mal ab, ob die Vermutung eintritt und passe dann den Vorschlag an. |
Integrieren
Nun liegen die Einwände (Bedenken) vor und sind auf ihre Gültigkeit geprüft. In diesem Schritt wird der Lösungsvorschlag solange verändert, bis er sowohl die ursprüngliche Spannung als auch dem Einwand genügen.
- Starte mit einem Einwand, der alle Bedingungen erfüllt hat.
- Der Spannungsgeber und der Einwandgeber setzen sich in die Mitte des Teams. Zusammen überlegen sie sich am Flip-Chart eine Lösung, die sowohl die ursprüngliche Spannung als auch dem Einwand genügen.
- Die anderen Teammitglieder beobachten die Arbeit in der Mitte, sie können Vorschläge anbieten. Es bleibt aber die Entscheidung der beiden aktiven Teammitglieder in der Mitte, was sie mit den Vorschlägen aus dem Publikum machen.
- Wenn die beiden zu einer neuen Lösung kamen, dann fahre mit dem nächsten Einwand genauso fort.
- Wenn keine Einwände mehr übrig sind, steht nun eine geänderte Lösung im Raum. Gehe zurück zum Schritt “Einwände” und prüfe, ob die neue Lösung “einwandfrei” ist.
- Wenn keine Einwände mehr kommen, ist die Lösung vom Team als einwandfrei verabschiedet!
- Wenn euch die Zeit noch bleibt, könnt ihr zurück zum Schritt “Vorstellung” und eine weitere Spannung und Lösung beschließen.
Hinweise
- Diese Übung als “Probelauf” für ein Governance-Meeting gedacht. Es steht also nicht das Durchsetzten der “besten” (eigenen) Lösung im Vordergrund, sondern den Ablauf und die Begriffe kennen zu lernen. Und gefahrlos erfahren, wann man wie Einfluss nehmen kann.
- Lies dir die Beschreibung gut durch, es ist erfolgsentscheidend, dass du die Übung gut und verzögerungsfrei anleitest.
- Bei den ersten Runden fühlt sich der Prozess der Entscheidungsfindung zu starr, dogmatisch und fremd fühlen. Insbesondere, wenn ihr bislang nur Konsens, Mehrheitsentscheid oder Autokratie praktiziert habt.
- Der Zustimmungsprozess kann für Menschen, die Zeit oder Gespräche benötigen, um ihre Meinung zu formulieren, herausfordernd und stressig sein. Wenn die Entscheidung nicht dringend ist, könnte man den Prozess für einen Tag unterbrechen. Dann haben die Teammitglieder die Möglichkeit den Vorschlag zu prüfen, mit Kollegen zu besprechen und ihre Einwände zu formulieren.
- Integrativer Konsent ist auf Geschwindigkeit ausgelegt. Das kann zu dem Eindruck führen, dass Geschwindigkeit das ultimative Ziel ist und nicht die Lösung. Die Teammitglieder können ihre Reaktionen und Einwände aus Angst vor einer Verlangsamung des Prozesses zurückhalten. Dann verliert das Team deren wertvollen Einsichten. Achte daher auf eine gute Balance aus Geschwindigkeit und Zeit zum Nachdenken.
Quellen
Überblick über Entscheidungsverfahren.
Grundlagen zu spannungsbasiertem Arbeiten
Oestereich, Bernd, und Claudia Schröder. Das kollegial geführte Unternehmen: Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen. München: Vahlen, 2017.
Robertson, Brian J. Holacracy: ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. Übersetzt von Mike Kauschke. München: Verlag Franz Vahlen, 2016.